Leviathan

Unerbittliches und mitreißendes Drama über eine Familie, die in einem kleinen Dorf an der Barentssee in die Mühlen der Bürokratie gerät.

Schon die ersten Bilder von sich brechenden Wellen und kargen Felsen künden, begleitet von Musik von Philipp Glass, mit großem Ernst von einem Kunstfilm, der alles in die Waagschale werfen will und es in den folgenden 140 Minuten auch tun wird. Erzählt wird an der Oberfläche die Geschichte einer Familie in einer Kleinstadt an der Barentssee und ihrem verzweifelten Kampf gegen einen korrupten Stadtpolitiker, der alles tut, um das Land, auf dem ihr Häuschen mit Blick über die komplette Bucht steht, in seinen Besitz zu bringen. Tatsächlich aber geht es in einer substanziellen Szene nach der anderen um Russland selbst, alle erdenklichen Aspekte der russischen Seele, und in der direkten Verlängerung um die condition humaine. Vom Buche Hiobs sei er inspiriert gewesen, gab Regisseur Andrej Swjaginzew, 2003 Gewinner des Goldenen Löwen für seinen Erstling "The Return - Die Rückkehr", zu Protokoll. Darin geht es um den Sinn des Leidens und Prüfungen, die Gott einem Gläubigen auferlegt. Nur dass Gott hier für Russland steht und ein ganzes Land seinen Bürgern das Leben zur Hölle macht.

Dass ein Film wie dieser, in dem bis zur Besinnungslosigkeit Wodka getrunken wird, die Mühlen der Bürokratie gnadenlos die Menschen zermahlen, auf die Porträts der russischen Präsidenten von Lenin bis Jelzin bei einer Schießübung geballert und Putin abschätzig auf den Arm genommen wird und die Kirche dem unerträglichen Filz die Absolution erteilt, allen Ernstes in dieser furiosen Form vom Kulturministerium abgenickt worden sein soll, wie im Vorspann mit einer eigenen Tafel mitgeteilt wird, will man fast nicht glauben. Im nicht zu übertreffenden Mittelteil steigert sich diese so klar und stringent erzählte große russische Tragödie bei einem Picknick an einem See zu einer aber- und wahnwitzigen Farce, gleichzeitig zu einer Generalabrechnung mit dem, was von der Idee eines einstmals vermeintlich stolzen Landes übrig geblieben ist, und in der Folge zu einem ganz intimen menschlichen Drama, in dem die Beteiligten bereits Verlierer sind, es selbst aber noch nicht wissen.

Von der unsäglichen Dröge, die beispielsweise "Die Verbannung" zu einem so quälend anstrengenden Filmerlebnis machte, ist hier nichts zu spüren. Angetrieben von einer in jedem Bild spürbaren Wut, hat Swjaginzew ein spektakuläres Sittengemälde geschaffen, in dem gekämpft und getanzt und gelacht wird, bis der Regisseur am Schluss gnadenlos den Hammer niedersausen lässt: Keiner kommt hier ungeschoren davon, weil sich hier jeder selbst am nächsten steht und Staat und Kirche gemeinsame Sache machen. Ein großer Film, Kunstkino ohne Kompromiss und doch für ein großes Publikum.

Russland 2014
Regie: Andrej Swjaginzew
Darsteller: Alexei Serebrjakow, Elena Lyadova, Wladimir Wdowitschenkow
141 Minuten
ab 12 Jahren

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