Ein kleiner Junge verlässt das Haus seiner Kindheit und zerrt einen riesigen Koffer hinter sich her. Schon nach wenigen Metern stemmt er ihn vor seinem Körper nach oben, um auf diese Weise ein kleines Stück vorwärts zu kommen, aber es ist aussichtslos. Der Junge ist nur wenig größer als der Koffer. Schließlich schleift er ihn bis zur Scheune, in der er einen Handwagen findet, auf dem 'Layton' geschrieben steht. In der nächsten Einstellung sehen wir ihn auf der Landstraße, den Wagen mit dem Koffer mühsam hinter sich herziehend, so kommt er vorwärts, immerhin. Der Junge heißt T. S. Spivet, ist zehn Jahre alt und gerade im Begriff, sich von der Ranch seiner Familie in Montana auf den Weg nach Washington D. C. zu machen in das berühmte Smithsonian Museum, um dort einen Preis für wissenschaftliche Leistungen in Empfang zu nehmen...
Der Regisseur von „Die fabelhafte Welt der Améli“ hat wieder einmal tief in der Kindheit geschürft und ist fündig geworden. Diesmal ist es der für sein Alter viel zu kleine T. S., der uns ganz neue Blicke auf das Leben schenken wird. Es sind wunderbar kraftvolle und dann wieder ganz bizarre Bilder, mit denen Jeunet in einer unendlichen Detailverliebtheit die etwas seltsame Welt zeichnet, in der T. S. aufwächst. Denn seine Familie ist alles andere als normal, zumindest nicht in dieser Zusammensetzung. Der Vater ist ein Cowboy, der aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint, die Mutter eine emanzipierte Wissenschaftlerin, die sich in ihrer Suche nach seltenen Insekten verliert, die Schwester ein eher normaler Teenie mit Starallüren, die aber ununterbrochen an dieser Familie leidet, und selbst der Hund ist depressiv und frisst Metalleimer. Da war Layton, so scheint es, der einzig Normale. Aber der Zwillingsbruder von T. S. ist tot. Der Film erzählt diese tragische Vorgeschichte nicht linear, sondern in ungeordneten Sequenzen als traumatische Erfahrung aller Familienmitglieder, die jedes von ihnen anders verarbeitet oder verdrängt hat. Jeunet nutzt dabei vielfältige Formen von Rückblenden oder verknüpft Filmbilder mit Zeichnungen von T. S., um neben dem äußeren Geschehen immer auch dessen inneres Erleben ins Bild zu bringen. Ein wunderbarer Film für neugierige Erwachsene, und auch für Familien mit größeren Kindern ein ganz sicher anregendes gemeinsames Erlebnis.
Frankreich, Kanada 2013
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Darsteller: Helena Bonham Carter, Judy Davis, Callum Keith Rennie
105 Minuten
ohne Altersbeschränkung